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Deutsch 

Im Zug

Munir Alubaidi

Wie jeden Tag war ich auch heute morgen auf dem Weg zur Arbeit. Dieses Mal lief ich jedoch mit leichten Schritten, als ob ich von einer Wolke getragen wurde; da kam schon der Frühling und die frische Morgenbrise erfrischte alles. Rundum von den Kronen der Bäume sangen die Vögel, vom Frühling geweckt. Ich fühlte mich aktiv und enthusiastisch, spürte ein mich überwältigendes Verlangen nach Arbeit. Der Zug erschien in der Ferne, hielt im Bahnhof an. Ich stieg ein und nahm einen Sitzplatz neben der Tür.

Mir gegenüber saß ein Mann, der nach gestrigem Alkohol und billigem Tabak roch. Als er mich sah, zog er sich zurück, presste die Knie zusammen und warf mir einen Blick mit einem Gemisch aus Furcht und Zweifel zu. Sein Haar war ungekämmt, ergraut, der Bart lange nicht rasiert; er war in Lumpen gekleidet, das Gesicht ermattet. Unter seinen erschöpften Augen traten Schwellungen hervor. Wie bei vielen Obdachlosen in dieser Stadt war die Kälte des vorigen Winters tief in seine Knochen eingedrungen.

Ich blieb auf meinem Sitzplatz. Tat ich es aus Höflichkeit oder fühlte ich mich in unerklärbarer Weise von ihm angezogen? Er hatte etwas Besonderes. Bei ihm spürte ich eine alte Niederlage. Vielleicht wäre ich wie er, wenn manche Sachen bei mir schief gegangen wären. Hinter seinem schäbigen Aussehen entdeckte ich etwas von mir. Auch begann er, mir alle paar Sekunden schnelle, bittende Blicke zuzuwerfen, als ob er sich für etwas entschuldigen wollte.

Unterwegs zwischen Marienfelde und Attilastraße habe ich seinen Bart rasiert, den Schnurrbart getrimmt, die Haare gekämmt, den Staub von seinen Schultern entfernt. Ich schaute ihn prüfend an, wie er jetzt aussah. Auf der Strecke  bis zum Priesterweg habe ich seine Lederjacke gesäubert, seine Hose durch eine neue ersetzt, die Schuhe poliert.

Bis zum Südkreuz habe ich die Falten und Schwellungen unter seinen Augen entfernt, seinen Augen den Glanz zurückgegeben.

Als er aufstand um auszusteigen, blickte er mich selbstbewusst, elegant, gutaussehend an und ging lächelnd, mit festen Schritten über den Bahnsteig.

Auf dem letzten Stück zu Blissestraße breiteten sich Falten auf meinem Gesicht aus, zwei Schwellungen entstanden unter meinen Augen, mein Bart wuchs, meine Haare gerieten durcheinander, meine Kleidung wurde schäbig und die Schuhe waren schmutzig, die Knie zitterten.

Ein eleganter Mann stieg in den Zug ein und setzte sich mir gegenüber. Ich zog mich voller Angst in mich zurück und schaute ihn bittend an. Als ich die Zielstation erreicht hatte, stieg ich aus. Ich fühlte mich fremd, meine Schritte waren unsicher, ich stand verwirrt auf dem Bahnsteig: Wer bin ich und was tue ich hier?